Süßes Leben, fette Not

ZEIT-Dossier
Eine halbe Milliarde Menschen gilt als fettleibig. Besonders in den Staaten am Persischen Golf wächst die Zahl der Übergewichtigen. Der Versicherer Munich Re will sie zu gesundem Essen erziehen, um Folgekosten zu sparen. Ein Besuch bei Scheich Raschid al-Mualla und seiner Familie, die jetzt den Verzicht lernt.

Fatima ist dick, man kann es nicht anders sagen. Ihre Abaya, das schwarze Gewand der arabischen Frauen, spannt über ihrem Bauch. Ihr vom Kopftuch gerahmtes Gesicht wirkt noch jung, aber wie gepolstert. Es bildet sich ein Schweißfilm darauf, obwohl sie nur dasitzt auf ihrem vier Meter langen Sofa und plaudert und eine Klimaanlage die Luft in ihrer Villa auf 22 Grad kühlt.

Ihr Gewicht bekümmert Fatima, dem Rest der Welt könnte es egal sein – warum isst sie auch so viel? Doch so zu denken ist womöglich ein Fehler. Ein Fehler, so groß, wie es einer war, schon vom Klimawandel zu wissen, ihn aber Jahr für Jahr zu ignorieren.

Fatimas Bauch ist ein Sinnbild für das nächste von Menschen gemachte Unheil. Überall auf der Erde werden Menschen viel zu schnell viel zu schwer, doch nirgends so schnell wie am Persischen Golf, wo Fatima mit ihrer Familie im Emirat Schardschah lebt, gleich neben Dubai. Nirgends haben sich Wohlstand und Fortschritt so von der Gesundheit ihrer Nutznießer entkoppelt wie hier in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Ein Blick in Fatimas Welt kann ein Blick in die Zukunft der Menschheit sein.

Ihre jüngste Tochter reicht Fatima ein Kosmetiktuch. Verlegen tupft sie sich das Gesicht ab. Ist es der hohe Blutdruck? Nein, ach was, sie lacht, wehrt ab, der sei wieder normal. Sie bietet Säfte an, Trauben, Mokka und einen Berg süßer Teigkringel, von denen sie die Finger lässt, neuerdings.

Das Unglück, das zu viel Fett in ihrer Familie wie in Abermillionen anderer auf der Erde anrichtet, bricht nicht wie eine Schlammlawine, ein Erdbeben, ein Tsunami über seine Opfer herein. Die Katastrophe bahnt sich in den heimischen Küchen an, beim Drive-in der Fast-Food-Restaurants, beim Griff in die Tiefkühltruhen der Supermärkte, beim Ruf nach dem Pizza-Service. Sie ist, anders als in den USA, nicht mal augenfällig an den Körpern hier, weil sie in formloser Kleidung stecken, in Gewändern und Tüchern, unter Schwarz und Weiß, das einst Schutz gegen Sand und Hitze bot und jetzt gegen abschätzige Blicke. Die Katastrophe tut auch nicht weh, nicht sofort, sie schleicht sich ein, bei Fatima mit Müdigkeit, Kurzatmigkeit und Schmerzen im Knie. Sie kann enden in einem frühen Herztod oder einem Leben als Stoffwechselkranker mit Durchblutungsstörungen, Nierenleiden, Depressionen, Erblinden.

Weltweit ist ein Körperwandel im Gange, dessen Auswirkungen nicht absehbar sind. The Lancet, ein Fachmagazin für Medizin, berichtet, dass sich die Zahl der Fettleibigen seit 1980 verdoppelt hat. 500 Millionen Menschen wiegen jetzt nicht nur zu viel, sondern viel zu viel. Das heißt: eine Frau von 1,60 Meter über 77 Kilogramm, ein Mann von 1,80 Meter mehr als 98.

Es ist wie beim Klimawandel: Die Opfer der Katastrophe sind gleichzeitig ihre Urheber.

Fatima, fröhlich durchaus, geboren in Syrien, verheiratet in den Emiraten als Zweitfrau mit Scheich Raschid al-Mualla und Mutter von dreien seiner elf Kinder, hat vor neunzehn Monaten mit ihrem Mann begonnen, etwas gegen das Übergewicht zu unternehmen. Gesünder essen, weniger vor allem, mehr Bewegung, überhaupt Bewegung, alles unter Anleitung. Doch, auch das kann man nicht anders sagen, im Unterschied zu ihrem Mann Raschid ist Fatima noch nicht weit gekommen. Sie wiegt 95 Kilogramm bei 1,68 Meter Größe. Vor Jahresfrist waren es 99. Heute Morgen lag ihr Blutzuckerspiegel bei 163 Milligramm pro Deziliter Blut. Gesund wären 90, höchstens 120 Milligramm.

Zufällig, vor einer Operation, hatten Ärzte bei ihr Diabetes mellitus Typ 2 diagnostiziert, umgangssprachlich: Alterszucker. Vier Jahre ist das her, Fatima war 37. »Da bin ich erschrocken, natürlich, sehr erschrocken.« Jetzt, mit 41, denkt sie daran, sich den Magen verkleinern zu lassen. Sie hält die Diät nicht durch. Ins Fitnessstudio, in dem sie sich vor drei Jahren angemeldet hatte, fährt sie auch nicht mehr. Sie habe da etwas an der Halswirbelsäule, das mache die Sache unmöglich, sagt sie.

In den Wüstenstaaten am Golf geht vieles schneller als anderswo: das Reichwerden durch Erdöl, das Städtebauen durch Ausländer, das Dickwerden durch Überfluss. Das Abnehmen aber ist genauso mühselig wie überall. Darum soll ein Magenband die Sache in Fatimas Fall beschleunigen. Inschallah, sagt sie, so Gott will. Dabei ist die Geschwindigkeit das Problem: Binnen nur eines halben Menschenlebens hat sich in den Golfstaaten alles geändert. Das, was man isst, und das, was man tut. Und plötzlich liegen sie auf Platz 2 des Diabetes-Atlas der International Diabetes Federation – hinter Nauru, einem Inselstaat im Pazifik mit 10.000 Einwohnern.

Überall auf der Welt werden immer mehr Menschen immer dicker – aber warum in manchen Ländern schneller als in anderen? Und wieso wächst mit dem Wohlstand das Gewicht, aber nicht das Wissen um gesundes Essen?
Der Dresdner Arzt Peter Schwarz, Professor für Diabetesprävention, sagt: »Auf der Suche danach, wie man immer mehr Menschen schnell und billig satt machen kann, verfiel man aufs Fett. Fett konserviert, es trägt jeden Geschmack, lässt sich in jede Form bringen und kostet wenig. Anders als bei gesunden Lebensmitteln sind die Preise für Fast Food und Softdrinks seit Jahren gleichbleibend niedrig oder sind sogar gesunken.«

Das Unheil wäre abzuwenden oder wenigstens aufzuhalten, so wie das Schmelzen der Polkappen und das Steigen des Meeresspiegels aufzuhalten wäre. Man muss jedoch etwas tun. Eine Idee haben. Ein Rezept gegen die Verfettung. Wer zuerst darauf kommt, kann am Übergewicht der Welt verdienen. Die Munich Re, ein Dax-Konzern aus München, Weltmarktführer im Versichern von Versicherungen, Börsenwert gut 20 Milliarden Euro, sieht in den Dicken eine so große Gefahr wie Chance. Der Konzern tritt deshalb dort als Krankenversicherer auf, wo die Familie des Scheichs al-Mualla zu Hause ist, wo die Folgekosten der Fettleibigkeit schon jetzt in die Höhe schnellen, wo die Regierung das Problem dringend lösen will. Die königlichen Familien und der Konzern haben das gleiche Ziel, aber unterschiedliche Motive. Die Emire bangen um die Gesundheit ihrer Nachkommen, die Elite ist klein hier. Die Deutschen bangen um ihre Bilanzen.

Ihr Vater, sagen seine Teenager-Töchter und weisen spöttisch auf Scheich Raschid, sitze den ganzen Tag genau da, wo er jetzt sitzt, in seinem Sessel, etwa zweieinhalb Meter vom Bildschirm entfernt, »immer!«.
»Aber ich schaue nur Nachrichtensendungen«, wehrt sich der Vater und lacht und macht nicht den Eindruck, als reue ihn etwas. Er wendet sich wieder den Nachrichten von al-Dschasira zu, ein Ohr an den Unruhen in der arabischen Welt, das andere bei den Lästereien seiner Töchter.

Ein Mann mit Bauch sitzt vorm Fernseher, so wie überall auf der Welt Männer mit Bäuchen vor Fernsehern sitzen. Nur trägt dieser ein langes Gewand und ein weißes Tuch auf dem Kopf, darauf eine schwarze Kordel, die ursprünglich dazu benutzt werden konnte, das Kamel zu halftern. Aber das macht kaum einer mehr. Wer noch Kamele besitzt, hält sie als millionenteure Renntiere und kann sich Zaumzeug und Stallburschen leisten.

Die Hüllen dieses Lebens sind die alten, in ihrem Innern aber hat sich alles geändert. Jetzt passen Innen und Außen nicht mehr zusammen. Als Raschid ein junger Mann war, tauchte er mit seinem Vater nach Perlen. Er ritt, spielte Fußball, ging jeden Weg zu Fuß. Er versorgte im Winter mit dem Vater die Kamele, die Lasttiere waren. Scheich zu sein hieß damals nicht, reich zu sein. Man war nur verwandt mit der Herrscherfamilie, die auch nicht viel mehr besaß, solange niemand nach Erdöl bohrte. Niemand hatte ein Auto, als Raschid heranwuchs. Es gab nicht mal Straßen. Der junge Raschid tat in gewisser Weise das, worauf jeder Mensch noch immer programmiert ist, sagt Peter Schwarz, der Diabetesspezialist: »Wir sind dafür gemacht, den ganzen Tag zu laufen und zu jagen, um erst dann etwas zu essen zu haben.«

Heute, nach 30 Jahren Sitzen in einem Büro des Ministeriums für Statistik in Abu Dhabi, muss sich der Scheich eisern zwingen, eine halbe Stunde am Tag spazieren zu gehen, einen Kilometer, vielleicht zwei. Am besten in der Abenddämmerung. Es ist Teil seines Kampfes gegen den Bauch.

In neureichen Ländern wie China wird eher die Oberschicht dick, in den westlichen Ländern eher die Unterschicht. Und von beiden Seiten greift die Fettsucht auf die Mittelschicht über. Am Persischen Golf fallen die Entwicklungen zusammen, hier trifft der schnelle Wohlstand auf einen hohen Bildungsnotstand, was das Wissen um den eigenen Körper angeht. Es gilt hier als schick, sich Hamburger und Fritten nach Hause liefern zu lassen.

In Europa haben heute 55,2 Millionen Menschen Zucker. Im Jahr 2030 werden es 66,2 Millionen sein. In Indien zählte die International Diabetes Federation 50,8 Millionen, in 20 Jahren erwartet sie 87 Millionen. In den USA, Kanada und der Karibik: heute 37,4 Millionen Zuckerkranke, in 20 Jahren 53,2 Millionen. In Qatar, wo 2022 die Fußballweltmeisterschaft stattfinden soll, ist jede zweite Frau krankhaft dick. Jede zweite!

Es ist wie immer mit Zahlen – je größer sie werden, desto weniger kann man sich darunter vorstellen. Es reicht, sich zu fragen: Wer soll einmal für die Konsequenzen bezahlen?

Nichts fürchtet eine Versicherung mehr als eine Kostenexplosion. Und nichts fürchtet eine weltweit arbeitende Rückversicherung so sehr wie die Gefahr, dass es überall in den Krankenversicherungen und Gesundheitssystemen der Erde gleichzeitig knallt. Denn dann müsste sie zahlen. Genau das kann passieren, bald, wenn niemand etwas tut. Darum ist der »Weltrisikokonzern«, wie sich die Munich Re gerne nennen lässt, in ein Risikogebiet gezogen. Um Wissen zu sammeln. Die Experten im Kalkulieren des Unberechenbaren, von Erdbeben, Fluten, Ölkatastrophen, wollen auch Experten werden im Berechnen und Kontrollieren des menschlichen Körpers.

Vor eineinhalb Jahren rief eine junge Frau aus Abu Dhabi bei Fatima in Schardschah an. Sie stellte sich als Beraterin von Daman vor, Fatimas Krankenversicherung. Sie lud die Hausfrau ein, an einem Programm teilzunehmen, das ihren Lebensstil ändern helfe, kostenlos. Ihren Mann, den Scheich, rief zur gleichen Zeit ein junger Arzt an, mit demselben Anliegen. Fatima und Raschid willigten schriftlich ein, mitzumachen. Seither haben die Münchner einen Fuß in der Tür dieser Familie, in der arabischen Welt, in einer anderen Kultur, die so verschwenderisch ist wie verschwiegen und verschämt. Ohne viel davon zu wissen, bringt das Paar die Deutschen ein Stück voran bei ihrem Versuch, den globalen Körperwandel aufzuhalten.

Die Münchner Rückversicherung, so hieß sie früher, hat schon einmal recht behalten. Vor 38 Jahren warnte sie vor dem Klimawandel. Es war keine Ideologie, die die Deutschen trieb, sondern Statistik: Sie lasen es aus den Wetterschäden, die sie zu regulieren hatten. Aber keiner wollte hören. Das war ein Fehler, längst weiß man es und greift aus aller Welt auf die Klimadatenbank zu, die sie in München aufgebaut haben, die größte, die es gibt. Jetzt sagen dieselben Versicherungsmanager, dass die Fettleibigkeit eine ebenso große Wucht entfalten kann, den Planeten zu verändern, wie der Klimakiller CO2. Vielleicht hören die Menschen diesmal hin.

Der Konzern hat sich in Abu Dhabi in die staatliche Krankenversicherung eingekauft. Bei der National Health Insurance Company Daman hält er jetzt 20 Prozent. Es geht um Marktanteile, aber nicht nur. Aus München in die Emirate entsandte Kaufleute, Ärzte und Juristen probieren gleichzeitig aus, wie man der Verfettung der Welt Einhalt gebieten kann. Es geht um die Frage, zu welchen Bedingungen man sich Krankheit künftig leisten kann: als Patient, als Versicherung, als Staat.

Da wächst ein Riesenmarkt, auf dem eine Krankenversicherung deutscher Machart nicht weit kommt. Sie springt erst ein, wenn ein Mensch schon krank ist. Doch nur wer herausfindet, wie das Zunehmen zu vermeiden ist, bevor Kosten entstehen, wird noch Gewinn machen können. Die Menschen werden mehr, sie werden älter, und die Frage ist nun, wie sie das tun: lange gesund oder lange krank? Die Munich Re geht für eine Antwort weit. Um Gesundheitssysteme nach ihren Vorstellungen aufzubauen, arbeitet sie auch mit Regierungen wie der von Saudi-Arabien zusammen, obwohl diese Frauen als Menschen zweiter Klasse behandelt. Es geht dem Konzern um Mathematik, nicht um Moral. Im arabischen Raum und in Nordafrika werden sich die Behandlungskosten für Zuckerkranke bis 2030 mehr als verdoppeln. Da schert man sich nicht um die Scharia.

Vor eineinhalb Jahren in Davos, auf dem Weltwirtschaftsforum, verblüfften Wissenschaftler die Eliten mit der Behauptung, dass in nächster Zukunft nicht die Endlichkeit fossiler Brennstoffe, nicht Finanzkrisen, Klimaschäden oder Kriege den größten Einfluss auf die Volkswirtschaften hätten, sondern: das sogenannte viszerale Fett – der Bauchspeck. Denn er macht krank, und das kostet astronomische Summen, die Kassen, die Arbeitgeber, die Gesellschaften. 73,4 Milliarden Euro gab Europa im vergangenen Jahr für die Behandlung seiner Diabetiker aus. In den USA hat man ausgerechnet, dass im Jahr 2007 zusätzlich zu den Kosten für die Behandlung der Zuckerkranken von 88 Milliarden Euro noch ein ähnlich großer wirtschaftlicher Verlust hinzukam – durch eingeschränkte Leistungsfähigkeit, Krankentage, Todesfälle. Längst spricht man in der Weltgesundheitsorganisation von Fettleibigkeit als Epidemie.

Einmal im Monat telefonieren Fatima und ihr Mann jetzt mit ihren Beratern im 170 Kilometer entfernten Abu Dhabi, sie mit der Frau, er mit dem Mann. Anders ist es nicht vorstellbar in diesem Land, in dem Unfallopfer in Lebensgefahr darauf bestehen, nur von einem Arzt ihres Geschlechts behandelt zu werden.
Fatima und Raschid sagen ihren Beratern, wie viel sie wiegen, wie es um ihren Blutzucker steht, ob sie ihre Arznei vertragen, dass sie versuchen, den frittierten Reis wegzulassen oder das ölige Hummus, und zum Abendbrot viel frisches Gemüse essen und nur noch einen warmen Gang – statt drei Gängen wie ihr ganzes Eheleben lang: gegrillten Fisch, gebratenes Huhn, geschmortes Fleisch.
Als Raschid ein Junge war, waren frisches Obst und Gemüse etwas Kostbares. Als er es dann haben konnte, täglich eingeflogen aus der ganzen Welt, hatte er verlernt, dass es ihm schmeckt.

In einem Zimmer des Hauses steht jetzt ein Laufband. Wenn es heiß wird ab April, 50 Grad im Schatten, und das bis November, spazieren Fatima und Raschid eine halbe Stunde am Tag auf dem Band, im Schutze des Hauses und der Klimaanlage. Alle in der Familie täten das, sagen sie. Täglich, sagen sie. Und man weiß nicht, ob ihre Augen dabei nicht ein wenig zu treuherzig schauen. Die Coaches am Telefon, anonym und vertraut zugleich, sehen diese Augen nicht, sie ermutigen ihre Klienten nur, durchzuhalten. Vorwürfe verbieten sich für Diätberater, auch wenn sie im Computer anhand der neuen Laborwerte sehen, dass Fatima kaum abnimmt. Davon, sich den Magen abbinden zu lassen, raten sie ihr dringend ab, viel zu riskant, außerdem sei sie dafür nicht dick genug. Konsequenz und Kompliment in einem Satz.

Immerhin, Scheich Raschid hat 17 Kilogramm abgenommen, seine Blutzuckerwerte sind gesunken, der Blutdruck ist es auch. Er hat den Diabetes zurückgedrängt, einfach indem er sich anders ernährte. Der Scheich ist ein Beweis für Daman, für die Münchner, für neue Kundschaft auf dem Markt der Adipositasbekämpfung. Unter Raschids Dischdascha, dem weißen Langhemd, zeichnen sich noch immer drei Wohlstandsringe um die Hüften ab, der Scheich glaubt aber, nicht so sehr das Gewicht, vor allem das Alter habe ihm den Zucker gebracht. Raschid ist 63, mit 57 bekam er die Diagnose. »Schon mein Vater hatte Diabetes«, sagt er, als sei das ein Naturgesetz. Das erklärt nicht, warum seine 22 Jahre jüngere Frau an Zucker leidet und wieso seine ältere Tochter Menal, Architekturstudentin, erst 19, auch schon über 90 Kilo wiegt. Sie hat es schwer, einige davon loszuwerden. »Ich habe kein bestimmtes Gewicht als Ziel«, sagt Menal und hebt den Kopf ein wenig höher, »es soll nur weniger werden.« Ihr schönes Gesicht und der Sari-artige geblümte Hausanzug lenken vom schweren Körper ab.

Alfons Grabosch, 59, ein deutscher Chirurg, leitet das Diabetikerprogramm der Daman-Versicherung. »Gebt es zu«, sagte er manchmal amüsiert zu seinen Chefs in München, »ihr schaut auf uns wie auf ein Terrarium, um zu sehen, was passiert und ob das woanders auch funktionieren kann.«

Manager der Munich Re fliegen längst kreuz und quer durch die Welt, um das Gewicht der Völker zu vermessen, sitzen in den Krisenherden des Körperwandels, bei Ministern in China, Taiwan und Indien, beraten Regierungen, empfehlen sich für Lösungen, für Geschäfte letztlich. In Saudi-Arabien stehen sie vor einem Abschluss, in Oman bahnt sich etwas an. Sie warten darauf, dass Dubai eine Krankenversicherung aufzieht, vielleicht nach Abu Dhabis Vorbild. Die USA, apokalyptischer Vorreiter in Sachen Fett, kümmern sich mit eigenen Programmen.

»Disease-Management machen viele. Die Kunst ist es aber, Gesundheitsprogramme an die Region anzupassen«, sagt Michael Bitzer. Er ist Geschäftsführer von Munich Health für den Mittleren Osten und Afrika, einer Tochterfirma der Munich Re. In der Wüste heißt anpassen: an die Hitze, den Fastenmonat Ramadan, die Ungleichstellung von Mann und Frau und die Frage, warum ausgerechnet hier so viele so viel Ungesundes in sich hineinstopfen.

Scheich Raschid sagt, mit dem Reichtum durch das Erdöl sei alles komfortabler geworden, für jeden, durchaus. »Es ist aber auch alles komplizierter geworden. Früher ging man zu seinem Nachbarn und redete einfach. Heute macht das keiner mehr, jeder ist für sich.« Er hat ein wissendes, spöttisches Lächeln drauf; wenn man ihn aber bittet, zu beschreiben, wie sich seine Heimat verändert hat seit seiner Jugend, dann versagt ihm fast die Stimme. »Es ist alles anders, einfach alles, alles. Ach, ich habe dafür keine Worte.«

Wo Wüste war, stehen heute Hochhäuser. Wo Pfade verliefen, sind zehnspurige Straßen. Wo Mangroven das Ufer säumten, liegen künstliche Hotelinseln im Meer. Wo Sanddünen wanderten, kann man auf 520.000 Quadratmeter Bruttogeschossfläche einer einzigen Mall alles kaufen, was nicht lebensnotwendig, aber wegzutragen ist, von H&M bis Hermès. Im Emirates Palace, sechs Sterne, zwölf Restaurants und Bars, Doppelzimmer Pearl, 618 Euro die Nacht, ist alles Gold, was glänzt. Die Formel 1 ist hergekauft, ein Golfturnier haben sie natürlich und Irena, die Internationale Agentur für erneuerbare Energien. Zugleich entstehen ein Atomkraftwerk, ein Aluminiumwerk und eine Raffinerie. Parallel wächst eine ganze Umweltstadt aus dem Sand, Masdar heißt sie, und in ihr zu arbeiten und zu leben soll einst so gut wie kein CO2 verbrauchen. Geprotzt wird sogar vor Allah: In der Großen Moschee aus Marmor und Gold, Baujahr 2007, liegt der angeblich größte Teppich der Welt. Von den Decken hängen Kronleuchter, von denen jeder so raumgreifend ist wie ein Einzimmerapartment. Sie sind gefertigt aus: Swarovski-Steinen.

Das ist geschehen, seit Raschid ein Junge war, seit Fatima geboren wurde. Nur zu Hause blieb es, wie es war. Sollte es so bleiben.

Mit Mitte 20 wurde Raschid das erste Mal verheiratet. Seine Frau war 16 bei der Geburt des ersten Sohnes, er 27, sieben weitere Jungen gebar sie ihm noch. Als Raschid sich Fatima zur Zweitfrau wählte, war die Syrerin keine 20 und nicht dünn, das mögen sie hier nicht, aber doch noch schlank und gesund. Sie wog 68 Kilogramm bei 1,68 Meter. Nach sechs Schwangerschaften und drei Geburten wog Fatima schon 80 Kilo, mit 26 Jahren. Um weitere Fehlgeburten zu vermeiden, nahm sie die Pille, nahm weiter zu. Sie aß anders als früher in Syrien: weniger Obst, mehr Fleisch, Öliges, Süßes. Vor allem aß sie: viel mehr. Wie alle Frauen in der Nachbarschaft blieb sie zu Hause, sie hatte zu tun mit so vielen Kindern, aber auch Hausmädchen, Waschmaschinen, Geschirrspüler. Es fehlte an nichts.

Fatimas Tochter Menal, Zweitjüngste des Scheichs, wuchs heran, ging in die Mädchenschule. Dort gab es Sport als Fach – theoretisch. Wer am Rand sitzen bleiben wollte, blieb sitzen. »Eigentlich taten das alle«, sagt Menal. Menal wurde dick, Raschid wurde dick, Fatima wurde dick. Die neun Söhne und zwei Töchter aßen Fast Food und tranken Limonaden, wie alle Kinder im Land. Sie verkauften in den Emiraten Soft Drinks und Chips in den Schulen. Die Söhne spielten Fußball, bewegten sich, die Frauen und Mädchen nicht. Der Fernseher lief und lief. Immer mehr Autos standen vor der Tür. »Es müssen nicht mal 200 Meter sein, da nehmen wir das Auto«, sagt Raschid, Sohn des Perlenfischers.

»An epic story«, wirbt McDonald’s auf Postern in Abu Dhabi, darauf zu sehen ist ein Big Mac, und eine kurze Sinnestäuschung lang liest man: An epidemic story.

Das Projekt am Golf ist die ideale Versuchsanordnung für die Munich Re. Es gibt kein finanzielles Risiko, die Herrscherfamilie bezahlt die Krankenversicherung der Einheimischen aus dem Staatsetat. Weil die meisten Menschen in den Arabischen Emiraten Ausländer sind, zugewandert aus 140 Ländern der Erde, um zu bauen, zu handeln, zu investieren, zu dienen, gilt nur jeder fünfte der 5,3 Millionen Einwohner als Einheimischer, in Abu Dhabi sind es um die 300.000. Um an eine Karte für die kostenlose Krankenversicherung zu kommen, mussten sich die Einheimischen vor drei Jahren einem Gesundheitstest unterziehen. Das war die einzige Bedingung. Die Ergebnisse des Tests hatten es in sich: Jeder dritte Einheimische ist adipös, und jeder sechste hat Diabetes.

Es gibt keine Dunkelziffer mehr. Sowohl die Gesundheitsbehörde als auch die Krankenversicherung kennen Alter, Größe, Gewicht, Blutwerte und Blutdruck eines jeden Kartenbesitzers. Es ist ein Datenschatz ohne Datenschutz, in Deutschland undenkbar, für Versicherungsmathematiker ein Traum. Selten lässt sich ein finanzielles Risiko so schön umzingeln.

Umso genauer ist abzulesen, was Graboschs Leute im Terrarium erreichen. Alfons Grabosch, der Schönheitschirurg, Spezialist für Verbrennungsverletzungen, pendelte jahrelang zwischen Berlin und den Emiraten, um erst in Dubai und dann Abu Dhabi als »Visiting Doctor« Gesichter und Hände zu operieren. 2006 blieb er ganz, als Chefarzt. Bis die Münchner ihn anwarben. »Bevor mir selbst die Hände zittern«, sagte er sich im westfälischen Humor, »wage ich etwas Neues.«

Grabosch wusste, was da kommt. Er kannte ja die Körper, und er kannte auch die Mentalität der Menschen. Die der beleibten reichen arabischen Frauen zum Beispiel, Witwen oder in abgelegenen Villen residierende Erstfrauen, die einmal im Monat ihr Personal den Wagen vorfahren lassen, mit dem es in die nächste Mall geht, rasch zwei Gucci-Taschen kaufen und wieder nach Hause, in die ummauerte Einsamkeit. Außer Essen und Fernsehen bleibt da nicht viel. In der Tat sind es jetzt, da das Programm zwei Jahre läuft, oft die reichen Damen, die den Coaches von Daman am Telefon gleich absagen oder leugnen, dass sie Diabetes haben, obwohl die Testergebnisse eindeutig sind. Manche fürchten, ihre Kinder ließen sich nicht verheiraten, wenn bekannt würde, die Mutter habe Zucker.

Mehr als 2.500 Einheimische nehmen am Diabetikerprogramm teil, überredet am Telefon. Die Patienten wurden ausgewählt. Sie sind zwischen 40 und Anfang 60, alle hatten Übergewicht, viele leiden an hohem Blutdruck. Manche Frauen, die mitmachen wollten, sagten beim zweiten Anruf der Berater wieder ab, weil ihre Männer es ihnen verboten hatten. Das ist der tägliche kleine Clash der Kulturen in dieser Expedition der Münchner.

Vor Alfons Graboschs Büro im zehnten Stock der Daman-Zentrale sitzen die Coaches in ihren Telefonkojen: Libanesen, Emiratis, Palästinenser; Frauen in Blusen und Hosen neben Frauen in schwarzer Verhüllung, Männer in Anzügen neben Männern in Dischdaschas. Alle wurden in der Zentrale der Munich Re geschult. Einige der arabischen Ärztinnen und Ernährungswissenschaftlerinnen, Frauen von Ende 20, brachten ihre Väter oder Ehemänner nach Deutschland mit. Allein hätten sie nicht reisen dürfen.

Wie ihre Patienten führen sie selbst ein Leben zwischen vorgestern und übermorgen. Muneera Salem al-Marzouqi, 29, geht nur verhüllt auf die Straße, sie betet fünfmal am Tag. Sie lebt noch zu Hause – und doch ganz anders als ihre Mutter, die mit 16 das erste Kind bekam und keinen Beruf erlernte. Muneera hat einen Bachelor in Ernährungswissenschaften und arbeitet 40 Stunden pro Woche. Sie geht regelmäßig zum Sport. Und sie will ihren Master an der Uni machen. So lange versucht sie, nicht verheiratet zu werden. Denn dann könnte sie Kinder bekommen. Und das wäre ihr zu früh.

Der Arzt Mohamed Shaaban, 35, Libanese mit einem Doktortitel aus Odessa am Schwarzen Meer, ist der Einzige, bei dem manche Männer am anderen Ende der Leitung wagen, ein Tabu zu brechen. Sie vertrauen ihm an, dass sie keine Erektion mehr kriegen. Der Arzt erklärt ihnen dann, dass ihre Impotenz von einer Durchblutungsstörung herrühren kann, als Folge des Zuckers. Es ist dann nicht mehr schwer, die Männer zu einem gesünderen Leben zu überreden.

Das reiche Wüstenvolk hat sich bisher vom Westen nur genommen, was ihm gefiel: Cheeseburger und Chicken Wings, Gucci und Guggenheim. Aber es drückte sich vor Offenheit, wenn es darum ging, die Gründe der Verfettung zu erforschen. Die Weltgesundheitsorganisation hat das 2010 in einem Bulletin versucht: Die Einheimischen der Golfstaaten seien »verwöhnt von ihren hohen Einkommen« und investierten es, ohne nachzudenken, in falsches Essen.

Es ist bisher nicht erforscht, welche Rolle die Genetik spielt, obwohl alle mutmaßen, sie sei von Bedeutung. Hinter vorgehaltener Hand wird getuschelt, warum die große Zahl von Diabetikern nicht thematisiert wird: weil sonst offenbar würde, dass zu oft innerhalb der Großfamilien geheiratet wird.

Den Lebensstil sollen ihre Völker ändern, schnell, flehen jetzt die Herrscher in Dubai, Abu Dhabi, in Qatar, im Sultanat Oman. Sie meinen das Essen, die Bewegung. »Wir könnten unseren Patienten natürlich empfehlen, bei 45 Grad an der Strandpromenade zu joggen«, sagt Alfons Grabosch mit dem Sarkasmus des Chirurgen, »dann würde sich das Problem der Adipositas von allein erledigen.« Die Coaches raten lieber zum Fitnessstudio, zum Laufband im Wohnzimmer, zu Spaziergängen am Abend bei dann nur noch 35 Grad.

Zu viel Bewegung war in diesem Klima nie vorgesehen, wäre verrückt gewesen in der Affenhitze, bei 80 Prozent Luftfeuchtigkeit. Mit dem Wohlstand tauschten die Menschen die jahrtausendelang ertragene Mühsal, in der Wüste zu leben, gegen den größtmöglichen Komfort. Als die Scheichs ihre neuen Städte hinklotzen ließen, planten sie Parkplätze und Klimaanlagen überall, aber keine Parks, keine öffentlichen Turnhallen, keine Schwimmbäder. Jetzt bezahlen die Herrscher Bluttests und Coachings, starten Kampagnen in Schulen und Volksläufe im Winter. Vielleicht gelingt es ihnen als Ersten, den Körperwandel zu stoppen. Vielleicht passen die Urenkel der Perlenfischer, die Enkel der Ölmilliardäre eines Tages wieder mit ihrer Heimat zusammen, das Äußere mit dem Inneren, die futuristischen Hüllen ihrer Städte mit einem wirklich modernen Leben.

Bei Scheich Raschid sitzt die Zukunft auf dem Sofa. Alia, seine jüngste Tochter, Kind Nummer elf, 15 Jahre, geht an eine der neuen Modellschulen. Sie ist den ganzen Tag dort, es gibt gesundes Essen und viermal die Woche Sportunterricht, der wirklich stattfindet, obwohl es eine Mädchenschule ist. Alia spielt dazu noch Basketball und lernt drei Sprachen. Sie meidet zu viel Süßes, und Hamburger und Fritten isst sie einfach nicht.

Zu Hause trägt das Mädchen Jeans und Sweatshirt, das Haar fällt frisiert wie bei den Stars der Seifenopern auf Dubai TV. Nach der Schule will Alia an der American University in Schardschah studieren, Politikwissenschaften. Um Politikerin zu werden? »Ja, vielleicht«, sagt sie schüchtern. »Inschallah!« So Gott will.

Warum sollte er nicht wollen? Alia ist durchtrainiert, zierlich, man kann es nicht anders sagen. Wenn sie schlank bliebe, als Tochter, als Frau, vielleicht als Politikerin, wäre es dieser Familie gelungen, das Fett aufzuhalten.

Erscheinungsdatum
04.08.2011
Verlag
DIE ZEIT


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