Wenn der Wind dreht

Auf der Schwäbischen Alb soll ein riesiger Windpark entstehen. Erst waren die Bürger der benachbarten Stadt dagegen. Jetzt sind sie plötzlich dafür. Eine Geschichte über dichtende Beamte, rechnende Waldbesitzer und politische Landschaften – ein ZEIT-Dossier

Am Anfang war ein roter Punkt auf gelbem Grund, und Rot bedeutet Wind. Das Gelbe ist das Bundesland Baden-Württemberg, so wie der deutsche Windatlas es zeigt: eine große, weite Fläche, auf der die Luft sich kaum bewegt. Bis auf einige wenige Flecken. Die sind rot. Da weht der Wind, und zwar kräftig.
Da lohnt es sich, ein Windrad aufzustellen.

Lauterstein ist dunkelrot, eine kleine, luftige Stadt auf der Schwäbischen Alb mit 2.569 Einwohnern. Der größte Windpark Baden-Württembergs soll hier entstehen. Man hört das und denkt: Die haben Pech gehabt.

Also fährt man hin, um zu sehen, wie das so ist, wenn einem der Blick verbaut, das Panorama zerschnitten wird. Man vermutet Wut in dieser Stadt oder Sorge, bleibt ein paar Tage und kommt sich vor, als sei man in einen Werbefilm für Windenergie geraten. Jeglicher Ungehorsam scheint den Leuten abhandengekommen zu sein. Keinen stört es, dass bald riesige Propeller auf den Hügeln stehen sollen. Die Lautersteiner finden das gut oder wichtig oder fortschrittlich; mindestens ist es ihnen gleichgültig.

Wie kann das sein?

Überall in Deutschland suchen die Energieunternehmen jetzt nach roten Flecken. Windräder bringen sauberen Strom, das ist das Versprechen. Keine Treibhausgase wie Kohle und Gas, keine tödlichen Strahlen wie die Atomkraft. Strom gewinnen mit gutem Gewissen – das will jeder. Aber die Landschaft vor der eigenen Haustür dafür hergeben – das wollen die wenigsten.

In Lauterstein aber haben sie damit kein Problem, und deshalb ist diese kleine Stadt ein guter Ort, um eine Erklärung dafür zu finden, warum es in Deutschland zwar Hunderte von Bürgerinitiativen und Kommunalpolitikern gibt, die gegen Windräder kämpfen, aber trotzdem so viele Räder aufgestellt werden, auf den Feldern, in den Wäldern, an den Küsten. 900 allein im vergangenen Jahr.

Es ist noch nicht lange her, da haben sie auch in Lauterstein alles dafür getan, nur ja kein Windrad dulden zu müssen. Damals ging es um vier Räder von je 85 Meter Höhe. Jetzt geht es um 26 Räder, jedes 198,5 Meter hoch, vom Boden bis zur Blattspitze eines senkrecht nach oben stehenden Flügels.
198,5 Meter, das ist ungefähr die Höhe der Kugel des Berliner Fernsehturms. Aber jetzt läuft in Lauterstein niemand Sturm. Im Gegenteil, manche Gegner von einst sind begeistert von der Vorstellung, solche Türme in die Landschaft zu stellen.

Will man die Ursachen der Lautersteiner Energiewende begreifen, muss man den jungen Bürgermeister Lenz besuchen und seinen alten Vorgänger Mangold, mit dem Grafen Rechberg muss man sprechen und mit dem Berufsschullehrer Rühle, den nicht nur die Reaktorkatastrophe von Fukushima verändert hat. Als Erstes aber muss man den Windmacher treffen. Mit dem hat alles angefangen.

Hartmut Brösamle, 47, ist einer der beiden Vorstände von wpd, Deutschlands größtem Betreiber von Windparks. Über 1.400 Anlagen hat das Unternehmen schon errichtet, in Deutschland und Kroatien, in Chile und Taiwan, mal einzeln stehende, mal ganze Felder, onshore, offshore, alles.

Jetzt will Brösamle Lauterstein haben. Endlich. Schon vor 15 Jahren hat er um den windigen Standort auf der Schwäbischen Alb gekämpft. Bis vors Bundesverwaltungsgericht ist er gezogen, 100.000 Mark habe ihn das gekostet, sagt Brösamle, und das alles nicht nur wegen des guten Geschäfts, sondern auch, »weil ich tief im Herzen ein richtiger Öko bin«.

Der Öko sieht aus, als mache er Reklame für Boss: Schmal geschnittener Anzug, kahl geschorener Kopf, leicht asketische Erscheinung. Brösamle trägt nicht vor sich her, dass er vegetarisch isst, in einem Passivhaus wohnt, Elektromobil oder Fahrrad fährt und »innerdeutsch nur Zug, das ist auch Richtlinie für alle 850 Mitarbeiter der wpd-Gruppe«.

Vor gut einem Jahr bestieg Winfried Kretschmann, grüner Ministerpräsident von Baden-Württemberg, mit Hartmut Brösamle ein nagelneues Windrad, am Stöttener Berg in Geislingen, nicht weit von Lauterstein entfernt. Es war was für die Presse, eine Ansage in Bildform: Seht her, jetzt weht einer neuer Wind! Die zuvor im Bundesland regierende CDU hatte Windräder verdammt, jetzt werden sie sozusagen: befohlen. Spätestens im Jahr 2020 sollen zehn Prozent des in Baden-Württemberg erzeugten Stroms aus der Windkraft kommen. Um das zu erreichen, müssten jedes Jahr 120 bis 150 neue Räder in die Höhe wachsen.

Oben auf dem Windrad zeigte sich Kretschmann beeindruckt von der Technik. Und Brösamle, neben ihm, lächelte in die Kameras wie einer, der endlich belohnt wird. Er weiß ja, wie es ist, wenn die Politik Gegenwind entfacht, so stark, dass es einen umhaut.

Bei seinem ersten Versuch in Lauterstein, Ende der neunziger Jahre, war Brösamle am richtigen Ort zur falschen Zeit, nämlich zu früh. Damals hieß der Ministerpräsident von Baden-Württemberg noch Erwin Teufel, CDU. Und der Bürgermeister von Lauterstein hieß Gebhard Mangold. Ebenfalls CDU.

Aha, denkt man, Parteifreunde, aber damit macht man sich die Sache zu leicht. Mangold mochte Teufel nicht sonderlich. Sehr am Herzen aber lag ihm ein gutes Verhältnis zum Regierungspräsidium in Stuttgart. Von dort bekam Lauterstein Zuwendungen aus dem Ausgleichsstock, einer Umlage für arme Gemeinden.
Mangold, ein stämmiger Mann von heute 69 Jahren, selbst Kind armer Leute, hatte in den Siebzigern mit dafür gesorgt, dass Lauterstein als bedürftig eingestuft wurde. Damals noch jung im Amt, hatte er dem zuständigen Regierungsrat einen Korb voller Brot aus dem Holzbackofen, Wurst aus Hausschlachtung und Lautersteiner Apfelmost aufgenötigt. Während der Vesper erklärte er dem Beamten, warum Lauterstein dringend Geld brauche.

Mangold, der wusste, dass man dem Ministerpräsidenten Teufel nachsagte, er finde Windräder »zum Kotzen«, wollte die jahrelang gepflegten Beziehungen zu seiner Geldquelle nicht gefährden. Also erzählte er den Lautersteinern, Windräder würden hirnschädigende Wellen aussenden, Pfeiftöne von sich geben und giftiges Öl in die Umwelt sickern lassen. Was eben so die Gerüchte waren, die vor 15 Jahren unter Windkraftgegnern kursierten.

Die Windräder verstellen vor allem den Nachbargemeinden den Blick

Heute, als verschmitzter Pensionär, erinnert sich Mangold daran nicht mehr so gut, bis auf den Pfeifton. »Wir waren damals extra zu einer Anlage gefahren, und da hat man es noch über einen Kilometer entfernt gehört, so ein ständiges hohes Bfüüüüüt.« Jetzt, als Opa von vier Enkelkindern und mit sich selbst im Reinen, ist Gebhard Mangold der Ansicht, »noch nie etwas gegen Windkraft an sich gehabt zu haben, wirklich nicht«. Damals habe er ja vor allem an der Wirtschaftlichkeit der Räder Zweifel gehabt, »und die waren berechtigt!«.

Aber in den Klagen vor Gericht gegen den Investor Brösamle ging es nicht um die Wirtschaftlichkeit. Es ging um die Schönheit der Natur, nicht wahr? »Na ja, und?«, sagt Mangold, er stockt nur kurz. »Da haben uns die Gerichte ja durchweg recht gegeben!«

So war es nicht ganz, eigentlich war es ganz anders. Als 1997 das Landratsamt in Göppingen die Bauvoranfrage für vier Windräder zu genehmigen droht, greift plötzlich das Regierungspräsidium ein, Teufels langer Arm. Ehrenamtliche Naturschützer treten wie auf Kommando auf den Plan. Spitzenbeamte des Regierungspräsidiums kündigen an, sich ein Bild machen zu wollen. Brösamle darf nicht mal dabei sein. Im Juni 1998 wird sein Vorhaben gestoppt.
Brösamle zieht vor das Verwaltungsgericht in Stuttgart. Dessen Vertreter schauen sich stundenlang die Hügel, Felder und Wälder an, blicken auf den umstrittenen Landstrich namens Lützelalb, auf dem die Windräder stehen sollen.

Die Lützelalb, heißt es im Tonbandprotokoll, erweise sich »als ein Höhenrücken, der im unteren Teil mit Laubwald und dann mit einem Fichtenstreifen bestanden und teilweise kahl ist. Es handelt sich nach den übereinstimmenden Angaben um eine landwirtschaftlich genutzte Fläche.« Keine schützenswerte Natur also.

Brösamle bekommt recht, aber er darf es nicht behalten. Weil eine Berufung nicht zugelassen ist, fängt man in Stuttgart an zu dichten, um sie dennoch zu erwirken. Ein junger, weisungsgebundener Justiziar im Bauamt Göppingen verfasst Schriftsätze, in denen sich der kahle Acker mit seiner »Hülbe«, einem teichähnlichen, zugewucherten Wasserloch, in eine Perle der Natur verwandelt:
»Die 747 Meter hohe Lützelalb ist eine runde, nach den Rändern leicht abfallende, von relativ niedrigem Wald eingesäumte, großflächige Hochebene. Die Fläche ist ruhig und baumlos, im Zentrum befindet sich die mit Büschen umgebene Hülbe, die an ein Auge erinnert. Die Fläche wirkt abgeschlossen und hat nur den Himmel über sich. Eine solche eigenartige Situation von karger Schönheit ist selbst auf der Alb eine Seltenheit.«

Brösamle lacht darüber, heute. Er sagt: »Nur den Himmel über sich – wo hat man das schon?«

Der Verwaltungsgerichtshof Mannheim lässt tatsächlich eine Berufung zu und setzt ungewöhnlich schnell, zwei Monate später, die Verhandlung an. Diesmal dauert alles nur 30 Minuten; das Gericht kennt Schriftsätze der Windenergiefirma nicht, aber entscheidet gegen sie. Brösamle reicht beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde ein. Ihr wird stattgegeben – allerdings um den Preis, dass seine Klage Ende 2001 wieder vor derselben Kammer in Mannheim landet, die wieder gegen ihn urteilt, nun endgültig.

Brösamle hadert seither etwas mit dem Rechtsstaat, aber umgepustet hat ihn das nicht. Er zog hinaus in die Welt, um anderswo mit dem Wind sein Glück zu machen. Und sein Geld.

Zehn Jahre später ist die geografische Landschaft Baden-Württembergs noch immer weitgehend frei von Windrädern, die politische Landschaft aber verändert sich. Im Südwesten der Republik kommt eine grün-rote Koalition an die Macht, die Windkraft eher nicht zum Kotzen findet. Als auch noch die Kanzlerin in Berlin die Energiewende ausruft, versucht Brösamle ein zweites Mal, die Lützelalb mit seinen Rädern zu besetzen und ein paar angrenzende Flächen dazu.
Im Frühsommer 2011 ruft Brösamle den Grafen Rechberg an. Dem gehört das ganze Land da oben. Brösamle will, dass er ihm den nötigen Boden zur Verfügung stellt, gegen Geld natürlich.

Wie viel Pacht bekäme Rechberg pro Windrad und Jahr? Der Graf, 56 Jahre alt, mit 800-jähriger Familiengeschichte im Nacken, steht vor seinem Wald auf der Albhochfläche, zieht an einem Zigarillo, der ihm dauernd ausgeht. Er gibt sich Feuer und sagt ernst, dass er das leider nicht sagen könne.

Rechberg hatte vor der Verabredung gewarnt: »Ich werden ihnen bestimmt nicht das Herz ausschütten.« Dann aber lässt sich Bernhard Albert Josef Johannes von Rechberg und Rothenlöwen zu Hohenrechberg doch dazu hinreißen, drei Stunden lang von seinem Beruf, seinem Wald und seiner Firma zu erzählen, was bei Landwirten auf dasselbe hinauskommt, wie das Herz auszuschütten. Hinterher versteht man, warum Bauern wie er die rabiate Veränderung der Landschaft durch die Windkraftwerke nicht fürchten, warum sie diese, ziemlich unsentimental, sogar vorantreiben – indem sie den Investoren ihr Land verpachten.

»Wo Sie heute Wald sehen«, sagt Rechberg mit Blick auf einen Fichtenbestand auf der Lützelalb, »waren vor 200 Jahren noch Acker und Weide.« Der Boden aber ist karg hier oben, er gibt nicht viel her. Also habe es einer seiner Vorfahren mit Wald probiert. 4.250 Hektar sind es heute insgesamt, vor allem Fichten, viel Buche, und »die Douglasie ist im Kommen«, sagt der Graf.

Mit Bäumen ist es so: Bis sie Gewinn abwerfen, ist der, der sie pflanzen ließ, tot und seine Kinder sind mindestens alt. Zwei bis drei Generationen kostet ein Wald Geld, erst dann bringt er welches ein.
Von der Planung eines Windrades bis zu seiner Inbetriebnahme dauert es dagegen nur zwei bis vier Jahre, wenn sich keiner querlegt. »Man muss immer nach einem Standbein suchen«, sagt Rechberg. Deshalb sollen jetzt Windräder in seinem Wald stehen, mehr als zwanzig neue Standbeine. »Es ist eine Kulturlandschaft«, sagt der Graf. Darunter versteht er offenbar, dass sich der Mensch das Land schon immer so zurechtgemacht hat, wie er es braucht.
Oben, neben der Lützelalb, auf dem Bernhardus, einem Gipfel in der Bergkette, dessen Grund seiner Familie schon ewig gehört, ließ ein Ahne Rechbergs im Jahr 1880 eine Kapelle bauen, weil er bis dahin nur sechs Töchter bekommen hatte. Er brauchte Söhne, wegen der Erbfolge. Kaum war die Kapelle geweiht, bescherte ihm Gott drei Jungs, weshalb bis heute jedes Jahr am 20. August Tausende Gläubige auf den Gipfel pilgern.

Weil der Berg den Menschen also heilig ist, sollen die Windräder mindestens einen Kilometer entfernt von der Kapelle stehen. Der Graf hätte nichts gegen mehr Nähe gehabt – der Kirchengemeinde aber waren die geplanten 500 Meter Abstand nicht genug, obwohl man die Rotoren da oben vor lauter Wald überhaupt nicht sehen könnte. Aber Windenergie und Wunder passen offenbar nicht zusammen.

Hat Rechberg denn keine Angst vor dem Anblick der Windräder, wenn die Dinger erst mal stehen? »Nein«, sagt der Graf. Sähe er sie denn von seinem Haus aus? »Nein.« Rechbergs Gehöft liegt auf der anderen Seite der Lützelalb.
Sichtbar würden die Räder erst mit einigem Abstand, von der Talebene aus. Da unten aber ist Lauterstein schon zu Ende. Die Räder verstellen vor allem den Bewohnern der Nachbargemeinden den Blick. Was die Begeisterung der Lautersteiner für die neue Form der Energieerzeugung weiter erhöht hat.

Es muss den Waldbesitzer Rechberg doch geärgert haben, dass Behörden und Politik die Windräder vor elf Jahren verhinderten. Hätte er die Einnahmen nicht damals schon gebrauchen können, so kurz nachdem der Orkan Lothar im Jahr 1999 seine Fichten umgemäht hatte? »Na ja.« Pause, Zigarillo, Feuerzeug. »Darüber darf man aus heutiger Sicht eher froh sein, nicht wahr?«, sagt Rechberg und erlaubt sich jetzt doch ein heiseres, spitzbübisches Lachen. Wie auch nicht. Statt ein paar Tausend Euro Pacht pro Jahr für die damals geplanten vier kleinen Windräder stehen jetzt mehr als 500.000 Euro in Aussicht.

Man kann sich diese Summe, die Brösamle und Rechberg nicht verraten, selbst ausrechnen, auf einem Ausflug von Lauterstein in den bayerischen Staatsforst. Nahe Regensburg stehen dort Windräder von ähnlicher Art, wie sie bald auf die Alb gepflanzt werden sollen. Die Firma wpd hat die Lautersteiner eingeladen, sich das mal anzuschauen, weil hier auch im Wald gebaut wurde. Es sind zwar nur drei Windräder, und sie stehen auch nicht auf einem Berg, sondern im flachen Land an einer Autobahn, fern jeder Ortschaft. Trotzdem tapert eine Schar aus 28 interessierten Lautersteinern geduldig von Rad zu Rad.

Wie sie sehen, sehen sie erst mal nichts. So ein Riesenwindrad findet man im Wald vor lauter Bäumen nicht, bis sich plötzlich eine geschotterte, teils asphaltierte Lichtung öffnet, und da steht er: ein Trumm von Turm mit dem Charme eines monströs geratenen Fabrikschornsteins, mit 26 Meter Umfang aus Beton am Fuß, sehr hoch, nicht schön, trotz der grünlichen Ringe, die man ihm um den Leib gemalt hat.

Der bayerische Forstmanager plaudert unbefangen aus, was die Dinger seinem Freistaat einbringen: Einen Sockelbetrag von 10.000 Euro gebe es an Pacht, plus etwa 15.000 Euro Gewinnbeteiligung, die abhängig vom Stromertrag sei. Macht 25.000 Euro pro Jahr und Rad. »Das ist lukrativ«, ruft er aus. Dass das Geld letztlich von den Stromverbrauchern in Form von höheren Preisen erbracht wird, ruft er nicht. Er sagt es nicht einmal.

Mit dabei auf dieser Butterfahrt zur Windkraft ist der Lautersteiner Kommunalpolitiker Konrad Rühle von den Freien Wählern. Rühle war Anfang 30, als er im Jahr 1997 im Gemeinderat gegen die Windräder stimmte. Heute ist er 45 und leidenschaftlich dafür, sie zu bauen.

Damals arbeitete Rühle als Nachrichtentechniker. Er war viel unterwegs im Bundesland und glaubte, was er überall hörte: dass die Windmenge in Baden-Württemberg zu gering sei, um genügend Strom zu erzeugen. »Und immer war die Rede von der Verspargelung. Dem konnte man sich nicht entziehen. Und man dachte, die Anlagen sind nicht lukrativ.« »Man« ist er. Rühle hörte auf die Sorgen der Alten, seiner Wähler, »die auf der Alb noch mit Ochs und Karren ihre Äcker bestellt hatten« und die Angst gehabt hätten, Angst vor Veränderung.

Nur hielt das die Veränderung nicht auf. Seit 1997 wechselte die Bundesregierung von Schwarz-Gelb zu Rot-Grün zu Schwarz-Rot zu Schwarz-Gelb, vom Atomausstieg zum Wiedereinstieg zum Wiederausstieg. In den japanischen Reaktoren von Fukushima schmolzen die Kerne, und die Grünen stellen in Stuttgart auf einmal den Ministerpräsidenten und jetzt auch noch den Oberbürgermeister. Alles Ereignisse, die man in Lauterstein lange für nicht sehr wahrscheinlich gehalten hat.

Rühle hat in dieser Zeit eine dritte Tochter bekommen und sein Leben geändert, um öfter bei der Familie sein zu können. Er ist jetzt Berufsschullehrer. Immer wieder beschäftigt ihn »die Energiefrage«, wie er es nennt. Er sitzt ja außer im Gemeinderat auch noch im Kreistag. Rühle begriff, dass die atomare Energie nicht günstiger ist als die erneuerbare. »Die weisen bloß die Entsorgungskosten für ihren Müll nicht aus«, sagt er.

Rühle sah anderswo im Land die neuen Windräder, die höher wuchsen, immer mehr Energie aus dem Wind ernteten, die keinen Strahlenmüll produzierten, nicht bfüüüüüt machten, kein Öl versickern ließen. Seine Töchter und seine Schüler fragten nach Fukushima, wie es weitergehen werde. Er kam zu dem Schluss: »Es muss sich was ändern.«

Es ist mit Konrad Rühle wie mit den anderen im Bus und in Lauterstein: Seine Energiewende fand im Kopf statt, lange bevor die Kanzlerin sie ausrief. Wenn jetzt doch noch Windräder auf die Berge seiner kleinen Stadt kommen, dann sieht er: Es ändert sich tatsächlich etwas. Windkraft ist nicht mehr hässlich oder schön, sie ist der Forschritt.

400.000 Euro an Steuereinnahmen erleichtern es, Windkraft gut zu finden

Drei der 26 geplanten Windräder könnten auf Gemeindegrund stehen, das wären immerhin über 75.000 Euro Pacht und Umsatzbeteiligung im Jahr für das Städtchen. Noch viel mehr brächte die Gewerbesteuer für alle Anlagen zusammen. Vor drei Jahren noch hätte der Investor wpd diese Steuer nur an seinem Firmensitz in Bremen gezahlt – und Lauterstein hätte wenig von den Rädern gehabt, nur den Anblick. Heute müssen 70 Prozent der Gewerbesteuer dorthin fließen, wo die Anlagen stehen, so beschloss es die schwarz-rote Bundesregierung vor vier Jahren. In Lauterstein sollen es freiwillig sogar 90 Prozent sein. Michael Lenz, der Bürgermeister, kann mit 300.000, vielleicht 400.000 Euro im Jahr für seine Gemeinde rechnen. Er hat es deshalb viel leichter als sein Vorgänger Mangold, die Windräder gut zu finden. Er sagt: »Wir werden uns der Sache nicht verschließen.«

Der 35 Jahre alte Wahlbeamte Lenz verwaltet seine Stadt wie ein Mischwesen aus Diakon, Controller und Eigenheimverkäufer. Lenz war Finanzbeamter in Göppingen, bevor er es seinem Vater gleichtat und sich mit 28 Jahren zum Bürgermeister wählen ließ, nur nicht nebenan in Böhmenkirch, wie der Vater, sondern in Lauterstein, und nicht als CDU-Politiker, sondern als Parteiloser. Das kommt jetzt besser an.

Rund um den Bundestag in Berlin wird in diesen Monaten viel darüber diskutiert, wie es passieren konnte, dass die Union mittlerweile in keiner deutschen Stadt mit über 600.000 Einwohnern mehr den Bürgermeister stellt. In Lauterstein aber kann man erleben, dass sich nicht nur die Metropolen vom Konservatismus abkehren, sondern auch manche Kleinstädte. Vieles, was den Lautersteinern früher als verwerflich galt, findet ihr junger Bürgermeister erstrebenswert. Ganztagskindergärten zum Beispiel, Bürgerbeteiligung und eben: Windräder.

Fast 23.000 Windanlagen stehen heute in Deutschland. Aber nur 400 in Baden-Württemberg. Ausgerechnet das Bundesland der Technikversessenen, des Fortschrittsglaubens, des hart erarbeiteten Reichtums hat den Anschluss verpasst.
Die Albhochfläche über Lauterstein, von der alten Politik noch zur unantastbaren Schönheit erklärt, kommt der neuen grün-roten Regierung in Stuttgart da gerade recht: Es gibt viel Wind, null Widerstand und einen Investor, der alles geplant und durchgerechnet hat. Der hier produzierte Strom könnte den jährlichen Bedarf von 45.000 bis 50.000 Menschen decken.

»Der aufgeschlossene Betrachter wird die Anlagen als grob unangemessen und damit als die Umgebung verunstaltend empfinden… Zusammen entfalten diese Anlagen eine zaunartige Sperrwirkung. Hinzu kommt die störende Drehbewegung, die die Aufmerksamkeit unwillkürlich auf sich zieht. Bewegt sich der Betrachter selbst in der Landschaft, so scheinen sich die Masten in irritierender Weise umeinander zu bewegen.«

Das Albtraumszenario stammt aus dem Jahr 2000. Es findet sich in jenem Schriftsatz, in dem Stuttgarter Beamte einst von der kargen Schönheit der Lützelalb geschwärmt hatten. Wirklich lustig zu lesen war das, als es noch um vier kleine Windräder ging.

Erscheinungsdatum
13.12.2012
Verlag
DIE ZEIT


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